Vierundzwanzig Jahre später

Du hattest so ein helles Lachen. Wenn du wütend warst, warst du erbarmungslos. Du hattest dich mit meiner kleinen Schwester verbündet, die fünf Jahre jünger war als du. Wir selbst waren jung.

Wir kannten uns zwei Jahre. Du wohntest in der vor wenigen Jahren fertiggestellten Plattensiedlung direkt über uns. Wir gingen nicht in die selbe Schule, deinen Klassenraum hätte ich trotzdem blind gefunden. Die Mauer gab es seit zwei Jahren nicht mehr. Und was aus der DDR geworden ist, waren Schlangen vor den nigelnagelneuen Supermärkten im Kiez und ramschende Erwachsene, wenn es bei Aldi oder Plus einen Fernseher oder einen Computer gab – Rechner sagten unsere Eltern; auch heute noch.

Einmal hast du mich, angestachelt von der kleinen Schwester, gegen eine Wand geschubst. Ich musste von einem Nachbarn mit Auto in die Notaufnahme gefahren werden. Das zweite oder dritte Loch im Kopf, wie ich immer gesagt bekam. Es war nur eine Platzwunde; eine Platzwunde, aus der das Blut so strömte. Ich war dir vielleicht böse, sicherlich nicht sehr lange. Wie konnte ich auch. Ich mochte dich, wie meine eigene Schwester und darüber hinaus.

Plötzlich warst du weg mit deinen gerade frisch geschnittenen Haaren. Ein Auto, ein Laternenpfahl und mittendrin du. Fahrerflucht. In der Zeitung stand, eine Junge wurde schwer von einem Auto angefahren in dem Ort, in dem deine Großmutter wohnte. Erst Tage, Wochen später wusste ich, dass du es warst. Deine Eltern sah ich oft und ich konnte sie nicht ansprechen, weil ich nicht wusste, was es heißt, wenn jemand stirbt. Du warst einfach weg; für immer.

Erst sieben Jahre später stand ich das erste mal vor deinem Grab. Der Ort gehörte längst schon zu der Stadt, aus der wir kamen. Und ich—war schon lange fort.

Du fehltest mir lange nicht. Du warst weit weg in der Zeit, in der Ablenkung neuer Freunde, der ersten Liebe. Hin und wieder kamst du in Träumen oder einfach so in mein Gedächtnis. Nie hast du mir so gefehlt wie heute. Vierundzwanzig Jahre sind seitdem vergangen und ich vermisse dich mehr denn je.

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